Unternehmensgeschichte in Niedersachsen und Bremen

Unternehmensgeschichte in Niedersachsen und Bremen

Organisatoren
Arbeitskreis für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen
Ort
Braunschweig
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.03.2004 -
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Von
Ingo Köhler und Alexander Engel (Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Georg-August-Universität Göttingen)

Die Frühjahrssitzung des Arbeitskreises für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen beschäftigte sich auf ihrer Sitzung am 06.03.2004 in Braunschweig mit dem Stand der Unternehmensgeschichte in Niedersachsen (Teil 1) (www.staatsarchive.niedersachsen.de unter ‚Forschung/Historische Kommission'). Die Tagung fand statt auf Einladung der STIFTUNG NORD/LB-ÖFFENTLICHE, Braunschweig, die damit erneut ihr Engagement für die wissenschaftliche Erforschung der Geschichte in der Region unter Beweis stellte. Der fachwissenschaftliche Teil wurde vorbereitet von Prof. Dr. Hartmut Berghoff (Direktor des Göttinger Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte). Tagungsort war das Braunschweiger ARTmax, das in den Baulichkeiten einer ehemaligen Zuckerraffinerie u.a. ein Tagungszentrum beherbergt - ein sinnfälliger Versammlungsort für die Diskussion niedersächsischer Unternehmensgeschichte.

Nach Begrüßung und einleitenden Regularien durch den Leiter des Arbeitskreises, Prof. Carl-Hans Hauptmeyer (Universität Hannover) und die Schriftführerin, Dr. Gudrun Fiedler (Staatsarchiv Wolfenbüttel), umriss Prof. Berghoff Problemfelder, Funktionen und Herangehensweisen einer modernen Unternehmensgeschichtsforschung mit regionaler Perspektive. Unbestritten erfreue sich die Unternehmensgeschichte wachsender Bedeutung. Die zentrale Rolle der Unternehmen in ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Aktionsfeldern werde zunehmend erkannt und auch das Bedürfnis der Unternehmen zur identitätsbildenden Reflexion ihrer Geschichte wachse. Diese positive Entwicklung konfrontiere die Unternehmensgeschichtsschreibung allerdings gleichzeitig mit spezifischen Problemen, wenn sie insbesondere bei firmenhistorischen Auftragsarbeiten in ein Spannungsfeld zwischen wissenschaftlichem Anspruch und den berechtigten Verwertungs- und Selbstdarstellungsinteressen ihrer Auftraggeber gerate. Als Korrektiv plädierte Hartmut Berghoff für eine umso striktere wissenschaftliche Fundierung des Faches und eine möglichst breite Nutzung der vielfältigen modernen Theorieangebote. Dies gelte auch und insbesondere für die regionale Unternehmensgeschichte, die erst durch die fundierte Analyse regionaler Wirtschafts- und Marktstrukturen und die Herausfilterung konkreter Spezialisierungsmuster und Wettbewerbsvorteile einen umso stärkeren praktischen Wert für lokale Unternehmen erhalte. (Ausführlich dazu jetzt: Hartmut Berghoff, Moderne Unternehmensgeschichte. Eine themen- und theorieorientierte Einführung, UTB 2004)

In der ersten Sektion "Neue unternehmenshistorische Forschungen" zeigten Dr. Klaus Weber (The Rothschilds Archive, London) und Ralf Richter (Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Georg-August-Universität Göttingen) exemplarische Probleme und Möglichkeiten der unternehmensgeschichtlichen Forschung auf.
Klaus Weber fokussierte in seinem Vortrag "Vom proto-industriellen Leinengewerbe Niederdeutschlands zur modernen Textilindustrie. Atlantischer Seehandel und regionale Exportgewerbe" die besondere Prägung vorindustrieller Unternehm(ung)en, die sich modernen Kategorien der Betrachtung teilweise entzögen. Man treffe weniger auf große Betriebe mit fest institutionalisierten überpersonalen Strukturen, als auf dezentrale Organisationsformen sowie vorrangig auf familiären Beziehungen und sozialen Kontakten beruhende Netzwerke einzelner Akteure. Die Ausdehnung eines solchen Netzwerkes skizzierte Klaus Weber exemplarisch anhand der Aktivitäten der Osnabrücker Familie Ellermann, die - vor allem in Hamburg und Cadiz ansässig - Leinwand im Hamburger Hinterland einkaufte und im atlantischen Raum vertrieb.
Ralf Richter demonstrierte in seinem Beitrag "Unternehmerische Personalpolitik vor und nach der Währungsreform von 1948. Volkswagen", wie der mikrohistorische Blick in die inneren Strukturen eines modernen Unternehmens Beiträge auch für makrohistorische Debatten liefern könne. Waren die ordnungspolitischen Entscheidungen des Jahres 1948 ausschlaggebend für das dann einsetzende westdeutsche Wirtschaftswachstum, oder sind weiter zurückreichende Kontinuitäten wichtiger? Ein Blick in die Belegschaftsstruktur und -entwicklung der Volkswagenwerke in den Nachkriegsjahren mache deutlich, dass die Produktion bis 1948 unter erheblicher Fluktuation der Belegschaft litt, die sich aus den unsicheren Verhältnissen der Zeit erkläre. Mit der Währungsreform und anderen Maßnahmen ginge dann eine Stabilisierung der Beschäftigung und daran anknüpfend die Lösung struktureller Probleme innerhalb der Belegschaft einher, was den Weg für Produktionssteigerungen, also letztlich für wirtschaftliches Wachstum freimachte.

In der zweiten Sektion "Zwischen Forschung und musealer Präsentation" wandten sich Dr. Gerhard Kaldewei (Leiter der Museen der Stadt Delmenhorst) und Ulrich Reiff (Seminar für Kulturanthropologie, Georg-August-Universität Göttingen) Projekten zu, die aus der musealen Forschung zu wirtschafts- und unternehmenshistorischen Themen hervorgegangen sind.
In den Mittelpunkt seines Vortrages "Delmenhorster Anker-Linoleum. Der Stoff, auf dem die Moderne tanzte'" stellte Gerhard Kaldewei die Erfolgsgeschichte des Produktes Linoleum, das seit der Brüsseler Weltausstellung 1880 als neuer "ökologischer" Bodenbelag Einzug in die Säle, Treppenhäuser und Flure der deutschen Büro- und Privathausarchitektur gehalten habe. Mehr noch als der hohe Nutzwert sei es die kunstgewerbliche Gestaltung und Präsentation, mit dem es der Unternehmensleitung der Anker-Werke in Zusammenarbeit mit bekannten Grafikkünstlern gelungen sei, ihrem Produkt das reine Werkstoff-Image zu nehmen. Linoleum sei zum Modeprodukt generiert, zum Kunst- und Kulturgut und frühem Träger von "corporate design" für seine Abnehmer. Die erfolgreiche Symbiose zwischen Kunst und Industrie bilde das Leitmotiv einer Dauerausstellung zur Unternehmens- und Produktgeschichte im Delmenhorster Stadtmuseum.
Einen alternativen Ansatz präsentierte Ulrich Reiff in seiner Vorstellung eines Forschungs- und Museumsprojektes zum Kalibergbau im Wendland (die Ausstellung öffnet 2005 in Wustrow ihre Pforten), in dem speziell die Verortung industrieller Unternehmen in ihrem ländlich geprägten Umfeld in den Mittelpunkt rückte. Im Dreischritt einer unternehmenshistorischen, sozialgeschichtlichen und kulturanthropologischen Untersuchung widme sich das Projekt nicht nur den wirtschaftlichen Rahmen- und Entwicklungsbedingungen für die Ansiedlung der Kaliindustrie. Aufbauend auf einer kollektivbiografischen Analyse geliang es Reiff, die sozialen Strukturmerkmale der Belegschaften der regionalen Gewerke und die Probleme der Integration der neuen Arbeiterschaft in das ursprünglich bäuerliche Gesellschaftsgefüge aufzuzeigen. Aus mentalitätsgeschichtlicher Perspektive verblüffe dabei die nachweislich ausgeprägte Identitätsbildung der Bergleute, die trotz einer kaum 30 Jahre währenden Geschichte des wendländischen Kalibergbaus bis heute ihre Spuren im kulturellen Traditionsgedächtnis einer ganzen Region hinterlassen hat.

In der abschließenden Sektion "Unternehmens- und Wirtschaftsarchive. Fundamente der Forschung" informierten Dr. Manfred Grieger (Bereich Historische Kommunikation der Volkswagen AG) und Dr. Horst-Rüdiger Jarck (Leiter des Niedersächsischen Staatsarchivs Wolfenbüttel) über spezifische Aspekte zweier für die Unternehmensgeschichte wichtiger Archive in der Region Braunschweig-Wolfsburg.

Am Beispiel des Unternehmensbereichs 'Historische Kommunikation' der Volkswagen AG thematisierte Manfred Grieger die Gratwanderung von Unternehmensarchiven zwischen der Dienstleistung für die
geschichtswissenschaftliche Forschung und der funktionalen Integration des Archivs in die Abläufe des Unternehmens. Daran schlossen sich Ausführungen zu einem kultur- und geschlechtergeschichtlichen Ansatz zur Geschichte Volkswagens an. Anhand der unternehmenseigenen Jagd zeigte er Grundzüge der Repräsentation und Inszenierung von Männlichkeit und Führungsanspruch auf, die eng mit dem wirtschaftlichen Zweck des Unternehmens verbunden gewesen sind seien. Für die Unternehmenskommunikation sei das Thema aber im Gegensatz zu der ebenfalls erläuterten Publizistik von Erinnerungstexten
ehemaliger Zwangsarbeiter wie auch von Modellgeschichten, etwa der des K 70, weniger geeignet, da sich daraus kaum Chancen zur Aufwertung des Markenimages oder der medialen Abstrahlung von "Glaubwürdigkeitswärme" ergäben.
Zum Abschluss der Tagung berichtete Horst-Rüdiger Jarck über den Stand der Vorbereitungen zur Gründung eines Niedersächsischen Wirtschaftsarchivs in Braunschweig. Eindrücklich verwies er nochmals auf die Notwendigkeit Kapazitäten zu schaffen, um die umfangreichen historischen Quellenbestände niedersächsischer Unternehmen für die private und wissenschaftliche Nutzung zu erhalten. Jüngste Erfolge bei der Erschließung und Sicherung einzelner Firmenbestände sowie die positive Resonanz potentieller Projektpartner aus der niedersächsischen Wirtschaft, Verwaltung und Politik lassen - so Jarck - auf eine baldige Realisierung der vorliegenden Pläne hoffen. Die STIFTUNG NORD/LB-ÖFFENTLICHE habe mit der Zusage eines namhaften Geldbetrages für den Aufbau des Wirtschaftsarchivs einen entscheidenden Grundstein gelegt.

Der zweite Teil der Tagung findet - wiederum im Rahmen des Arbeitskreises - am 27.11.2004 in den Räumlichkeiten der TUI in Hannover ( Karl-Wiechert Allee, 30625 Hannover) statt. Alle an einer Teilnahme Interessierten werden gebeten, sich direkt bei der Schriftführerin, Frau Dr. Gudrun Fiedler (gudrun.fiedler@staatsarchiv-wf.niedersachsen.de) anzumelden.

Kontakt

Dr. Gudrun Fiedler (gudrun.fiedler@staatsarchiv-wf.niedersachsen.de)


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